Großer Reisetipp 1: Lass Dir Zeit!

„Zeit ist Geld“, so lauten die beflügelten Worte, die jeder kennt. In unserer heutigen Leistungsgesellschaft heißt das vor allem, dass – vereinfacht gesagt – je länger etwas dauert, umso mehr Kosten dafür anfallen.

Die Laguna de la Plaza im Nationalpark El Cocuy, auf über 4000 Metern Höhe über dem Meer
Wenn ich mir nicht so viel Zeit fürs Reisen gelassen hätte, hätte ich sie nie gesehen: Die Laguna de la Plaza im Nationalpark El Cocuy, auf über 4000 Metern Höhe über dem Meer

Außerdem ist „schnell“ auch Synonym für effektiv, effizient und damit am Gewinnbringendsten. So denken viele zumindest. Das mag in einigen Lebenslagen sowie vor allem im Beruf stimmen. Aber gilt „je schneller, desto besser“ auch auf Reisen?

In meinen Augen: klares Nein! Als Beleg meiner – dieser – These fällt mir als erstes spontan mein Erlebnis in Ancud auf der Insel Chiloé (die größte Insel Chiles) ein. Erlebnis wäre stark untertrieben, kann doch von einer Verkettung von Erlebnissen und dem Zugewinn einer der engsten und bemerkenswertesten Freundschaften der gesamten Reise gesprochen werden.

Ich kam damals mit dem Bus aus Puerto Montt kommend am Gemeindebusbahnhof von Ancud an. Man hatte mir von einem direkt an der Uferstraße liegenden Hostal (so wird ein Hostel in Chile genannt) eines Schweizers erzählt, welches ich eigentlich anlaufen wollte. Jedoch sprach mich die quirlige Mirta, Besitzerin der „Hospedaje Austral“, an. Ob ich eine Unterkunft benötige wollte sie wissen. Normalerweise bin ich auf diesen in den lateinamerikanischen Ländern nicht unüblichen Kundenfang direkt nach Aussteigen der offensichtlich zu erkennenden Touristen (und zwar nicht nur Nicht-Latinos) nicht sonderlich gut zu sprechen. Allzu oft kann man nicht mal in Ruhe Sack und Pack satteln und schon bevor man den Kopf hebt, um sich kurz zu orientieren wird einem auf teils recht plumpe Weise ein Hostal, eine private Pension o.ä. offeriert. Mirta jedoch machte dies auf die sympathische und für mich – zumindest in diesem Moment – nicht aufdringliche Tour. Und das obwohl die fast schon legendäre Hospedaje-Besitzerin (Hospedaje = Pension/Bed&Breakfast) von Natur aus alles andere als zurückhaltend daherkommt.

Mit der „Zeit ist Geld – Losung“ im Gepäck hätte ich in diesem Moment unaufgeregt auf mein angepeiltes Ziel, nämlich die mir zuvor empfohlene Unterkunft, verwiesen und höflich aber bestimmt abgelehnt. Jedoch war mir die Sache (und die Mirta) sympathisch und wir setzten uns gemütlich auf eines der Holzbänkle, die vor den Busplattformen an der Außenseite des Busbahnhofgebäudes standen.

Im Hospedaje Austral: Die Metzgerin der Straße bringt mir bei, wie man chilenische Empanadas (Teigtaschen) macht
Im Hospedaje Austral: Die Metzgerin der Straße bringt mir bei, wie man chilenische Empanadas (Teigtaschen) macht

Eine nette, angeregte Unterhaltung entwickelte sich. Nun könnte der geschätzte Leser meinen, es handelte sich um zähe, südamerikanische Verhandlungen um die Leistungen sowie den Preis eines Bettes in einer chilotischen Pension. Weit gefehlt, wir unterhielten uns über Gott und die Welt, auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass auch Mirtas Geschäftssinn mit im Spiel war und sie gerne wollte, dass ich Gast bei ihr werden würde. Mein Geschäftssinn als Rucksacktourist war aber auch nie zu unterschätzen. Deswegen war ihr Angebot eines Bettes, deutlich billiger als im zuvor angepeilten Hostal, attraktiv für mich. Ich erklärte ihr, dass ich die nächsten Tage Vieles im Internet (Arbeit in meinem Blog) zu erledigen hatte und dafür einen Computer brauchte. Sie bot mir kurzerhand an, den PC ihrer Tochter mitbenutzen zu dürfen.

Nebensächlich? Ganz und gar nicht! Wenige Stunden später saß ich nämlich im Wohn-/Esszimmer am Rechner der Tochter Fran und arbeitete. Man lud mich kurzerhand zum Abendessen ein, was ich dankend annahm, claro! Mit am Tisch saß ein weiterer Gast, Don Bastián. Dieser war mit seiner Lebensgefährtin aus der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile nach Ancud gekommen, da diese dort ihre Wurzeln hat. Don Bastian besaß zum damaligen Zeitpunkt in Santiago ein Geschäft, er baute Häuser.

Nun muss man sagen, dass das Hospedaje Austral eine sehr ansprechend hergerichtete Pension ist. Typisch chilenisch: Einfach, aber sauber, zweckmäßig, nett. Und dabei noch gemütlich. Von außen betrachtet übermittelte die Pension zum damaligen Zeitpunkt jedoch das Bild eines etwas vernachlässigten Gebäudes. Don Bastián formulierte das so: „Mirta, Deine Pension ist sehr schön…von innen!“. Und beschloss kurzerhand, die Hütte zu streichen. Tags darauf hatte er Farben, Pinsel und Rollen gekauft. So weit so gut und nicht weiter reiseentscheidend für mich.

Das Hospedaje Austral während dem Streichen. So wie der obere Teil sah die Fassade des Erdgeschosses auch aus
Das Hospedaje Austral während dem Streichen. So wie der obere Teil sah die Fassade des Erdgeschosses auch aus

Jedoch klinkte sich Don Bastián nach wenigen Tagen wieder aus, reiste nach Santiago zurück. Zu mir hatte er bereits ein bis zwei Tage vorher nur gemeint: „Und morgen streichst Du auch!“. Und so kam’s: Statt der geplanten fünf bis sechs Tage in Ancud verbrachte ich knapp zwei Wochen dort. Von der Insel sah ich dabei – gemessen an der Aufenthaltsdauer – herzlich wenig. Es gab Tage, an denen ich nicht mal die Straße betrat. Dafür betrat ich allerdings, als ob es sich um ein Ersatzprogramm handeln sollte, das geliehene und vom Nachbarn aufgestellte Gerüst, um auch in den oberen Regionen der Hauswand die Farbwalze wüten zu lassen. Und zwar teils waghalsig über das Gerüst lehnend und geschickt den Arm zwischen den an der Hauswand ankommenden elektrischen Leitungen manövrierend. Bilder zur „Streich-Aktion“ siehe in der Bildergalerie meines Blogs: „Dezember 2010, Teil 2“.

So sah die Pension nach dem Streichen aus
So sah die Pension nach dem Streichen aus

Mit Mirta, Fran, Mirtas Mann Pedro und natürlich Lorenzo, dem Haus-Hund und König der Pension, schloss ich so eine große Freundschaft, vielleicht die engste meiner Reise. Der Abschied von der Familie mit gemeinsamem Essen und Abschiedsgeschenk für mich ging als einer der emotionalsten Momente in meine Reiseerinnerungen ein.

Etwa ein Jahr später kam ich während meiner Reise zurück ins „Hospedaje Austral“ und blieb für zwei Monate und lebte mit Mirta, Pedro und Lorenzo, lernte Spanisch im Selbststudium, erkundete die Insel genauer, half in der Pension mit. Und…strich die Rückseite des Hauses…und…entfernte – etwas zu meinem Ärger – die immer noch an den vorderen Fenstern klebenden Malerklebebänder. Ein paar Monate später besuchte ich Fran in Bogotá, die mittlerweile dort in der Wohnung ihres Vaters Pedro (ist Kolumbianer) wohnte und studierte. Der Kontakt zu den dreien hatte während der Reise und auch danach immer Bestand. Man sieht also: Sich hin und wieder Zeit zu nehmen lohnt sich.

In diesem Stil entwickelte sich auf meiner Reise häufig eine schöne Geschichte, nette Bekanntschaften oder tolle Erlebnisse, eingeleitet und/oder begünstigt durch: „Lass Dir Zeit!“.

Lies hierzu beispielsweise folgende Reiseberichte / Blog-Geschichten aus Südamerika von meinem Reiseblog www.ulmi.rtwblog.de :

Weitere Bekanntschaften, mit denen ich dank meines Vermögens „Zeit“ einige schöne Tage verbringen konnte:

Die Reinigungskraft eines Hostals im Süden Chiles: Sie lud mich in ihr Haus auf dem Land ein, machte im Haus Platz zum Schlafen, killte ein Huhn und machte davon eine frische chilenische Cazuela (Suppe).

Lara und Rodrigo aus Curitiba/Brasilien, wo ich anfing portugiesisch zu reden und ich viel über Brasilien lernte.

Meine brasilianischen „Brüder“ aus São Paulo, mit denen ich insgesamt dreimal auf meiner Reise Zeit verbrachte.

Lili aus Niterói/Brasilien, die mir viel über Land und Leute erzählte, mich zwischendurch für etwas mehr Sightseeing motivierte und uns (mir und meiner Schwester mit Anhang) außerdem für unsere Zeit in und um Rio de Janeiro eine gute Gastgeberin war.

Die Mehrheit meiner Couchsurfing-Gastgeber: der immer quirlige und partyliebende Josh (Santa Cruz de la Sierra/Bolivien), Fernando (San Salvador de Jujuy/Argentinien), mit dem ich mal ordentlich argentinisch einen drauf machte und der mir einen netten, echt argentinischen Grill-Tag beim Ferienhaus am See bescherte. Die freche und lustige Rocío (Punta Arenas/Chile) und Maritza (Mérida/Venezuela), deren halbe Familie ich kennenlernte und die mir ein paar versteckte Sehenswürdigkeiten zeigte.

Der Kolumbianer Hugo, den ich im Süden Brasiliens kennenlernte und ca. ein Jahr später in seiner Heimat Bogotá wiedertraf und der mich zu seinem kleinen Haus in den Bergen nahe der kolumbianischen Hauptstadt mitnahm.

Diese lieben Kinder freuen sich fotografiert zu werden und lassen mich ihre Englisch-Kenntnisse hören. In Puerto Nariño, Kolumbien
Diese lieben Kinder freuen sich fotografiert zu werden und lassen mich ihre Englisch-Kenntnisse hören. In Puerto Nariño, Kolumbien

Natürlich erlebt man auch zahlreiche nette und bemerkenswerte „Kurzgeschichten“ wie diese:

Original-Auszug (inkl. Rechtschreibfehler und im damaligen Schreibstil) aus Blog-Bericht „Uber`s Handeln, Reisen, Leute treffen“ (vom 17.07.2011):

„Einmal am Busbahnhof vorbeigeschlendert und Bisle rumgekuckt. Da kam einer aus seinem Buero, winkt mich her, fragt mich ohne dass ich was sage, ob ich Ami bin. Dann holt er eine Blockfloete aus seinem Schraenkle und spielt mir ein Lied traditioneller, paraguayanischer Musik vor. Ein Lied, zu dem Frauen tanzen, der Rythmus ahmt den Galopp der Pferde nach. Daher kommt auch der Name der Musik.“

Reisen tut man bekanntlich nicht nur, um Geschichten, Leute und Kulturen zu erleben, sondern auch um schöne Orte, Sehenswürdigkeiten, Natur kennenzulernen. Aufgrund meines langsamen Reisestiles hatte ich sehr oft die Möglichkeit, Dinge zu machen, die ich intensiver genießen konnte, als „schnelle“ Reisende.

Pinguine gibt es nicht nur in Punta Arenas, sondern auch an der Bahía Inútil (die "unnütze Bucht"), in der Nähe von Porvenir auf Feuerland. Diese Exemplare sind Königspinguine, die größte Pinguinart, die es gibt. Dank meiner langsamen Reisegeschwindigkeit konnte ich diese Pinguine sehen: Mit einem Italiener war ich am Trampen, andere Italiener nahmen uns mit und machten Halt an dem damals recht unbekannten, unter Naturschutz stehenden Gebiet, wo man uns Zugang und eine kleine Führung gewährte
Pinguine gibt es nicht nur in Punta Arenas, sondern auch an der Bahía Inútil (die „unnütze Bucht“), in der Nähe von Porvenir auf Feuerland. Diese Exemplare sind Königspinguine, die größte Pinguinart, die es gibt. Dank meiner langsamen Reisegeschwindigkeit konnte ich diese Pinguine sehen: Mit einem Italiener war ich am Trampen, andere Italiener nahmen uns mit und machten Halt an dem damals recht unbekannten, unter Naturschutz stehenden Gebiet, wo man uns Zugang und eine kleine Führung gewährte

Zudem war Zeit vorhanden, Touren und Ziele etwas ab von den gängigen Touristensehenswürdigkeiten zu erkunden. Ich denke hierbei vor allem an folgende Reisegeschichten / Reiseberichte von meinem Reiseblog www.ulmi.rtwblog.de :

Zudem empfehlenswert: Sich für Gespräche in der Öffentlichkeit Zeit nehmen, in denen man oft so Einiges über Land und Leute erfahren kann. Z.B. beim Warten auf den Bus oder im einfachen Restaurant, in dem meist keine Touristen, sondern nur Einheimische sitzen.

Und zu guter letzt: Hätte ich mir nicht so viel Zeit zum Bloggen genommen, hätte es auch nicht so viele lustige Blog-Artikel, Reiseberichte und schöne Bilder gegeben.

Hast Du Fragen zu diesem Artikel? Melde Dich bei mir!